Mittwoch, 7. April 2010

2000 Jahre sind genug von Hermann L. Gremliza



Nachdem ich seit 30 Jahren Konkret Leser (Abonnent) bin, erlaube ich mir den Text von meinem "Ersatz-Gott" Hermann L. Gremliza zum Thema "Opium für das Volk" hier zu präsentieren:


Um uns die Sintflut: Kardinäle, Patriarchen, Konsistorialräte, Bischöfe, Kirchenpräsidenten, Professoren der Theologie, Pfarrer, Missionsschwestern, Diakone; betende Präsidenten, wallfahrende Revolutionäre, beichtende Redakteure, bekennende Politiker. Überall ist Bistumsblatt und Kirchenfunk, vom Leitartikel der »FAZ« bis zur Leserbriefseite der »TAZ«, im Fernsehen predigt ich (Jesus), und ohne einen der Herren mit dem verkehrt umgebundenen Kragen wird erst gar nicht mehr diskutiert. Der Kampf der Stahlarbeiter von Rheinhausen um ihren Arbeitsplatz vollendet sich in einem »ökumenischen Gottesdienst« (was immer das ist). Ortega legt sich dem Wojtyla zu Füßen. In Peking, Kanton und Moskau waren zu Weihnachten die Kirchen überfüllt wie nie. Der Präsidentschaftskandidat George Bush (CIA) erzählt seinen Wählern, wie er »Jesus Christus als meinen persönlichen Retter erlebt« hat. Nach Ansicht einer vom Bundesminister der Justiz eingesetzten Kommission ist »massive atheistisch-antireligiöse Propaganda« ein Verstoß gegen die »Menschenrechte«. Jürgen Habermas, Fa. Kritische Theorie sel. Erben, entdeckt in der religiösen Sprache »inspirierende, ja unaufgebbare Gehalte«. Die Zeitung der DKP berichtet aus der schönen neuen Welt des Sozialismus unter der Zeile: »Wenn Marx und Christus an einem Strang ziehen.« Die »Zeit« meldet Gleiches aus dem anderen Lager: »Ruhrbischof Franz Hengsbach sucht den Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit.« Was einmal Kampf, Streik, Demo, Blockade war, ist »Fürbitt-Andacht«. Und der Chefredakteur des »Stern« fragt, zwei Seiten hinter einem Tittenbild in geschnürtem Leder, nicht: Wann waren Sie zuletzt im Puff? sondern: »Wann waren Sie zum letzten Mal in der Kirche?« Zwar sei sein »ganz persönliches Verhältnis zum lieben Gott nie stabil gewesen«, aber: »Eine religiöse Sehnsucht steckt in uns allen.«
Religion in den Zeiten der Pest: Nie, seit sich das von der Seuche geschüttelte Mittelalter ins Gebet flüchtete, hatte Aberglaube Konjunktur wie jetzt, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Während in Reagenzgläsern künstlich erzeugte Embryonen schwimmen, geht der Blick gen Himmel bzw. zu den Herren Hengsbach, Forck, Meisner, Stolpe, Obando y Bravo. Zeit für ein bißchen atheistisch-antireligiöse Propaganda: Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks (Marx). Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klassen im Kampf gegen die Ausbeuter läßt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Jenseits aufkommen, wie die Ohnmacht des Wilden im Kampf gegen die Naturgewalt den Götter-, Teufel-, Wunderglauben aufkommen läßt. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz, ihren Anspruch auf ein nur halbwegs menschenwürdiges Dasein ersäufen (Lenin).
»Die Furcht hat die Götter gezeugt« – die Hoffnung vertreibt sie. Aufklärung, bürgerliche Revolution, die Erhebungen des Proletariats und der wissenschaftlich-technische Fortschritt hatten die Hoffnung genährt, überall auf der Welt. Ausgerechnet eine der revolutionärsten wissenschaftlichen Entdeckungen bereitete dem Anfang ein frühes Ende: Die Spaltung des Atoms ermöglichte die Herstellung einer Waffe, die nur ein Mal gezündet werden mußte, um allen, die an Befreiung dachten, den Herrn zu zeigen. Nicht Sozialismus oder Barbarei war mehr die Wahl, sondern Resignation oder Weltuntergang. Die Religion war gerettet. Es waren nicht zufällig die klügeren unter den deutschen Pfarrern, die den Zusammenhang erkannten und die Kampagne gegen den Atomtod als Rekrutierungsfeld für gläubigen Nachwuchs nutzten. Ob für oder gegen Atomwaffen, die nie wieder aus der Welt zu bringen sind: Gott ist immer gut im Geschäft. Am Ende begriffen das sogar die katholischen Bischöfe der USA.
Und nicht nur sie. Die größten Profiteure aus der materiellen Produktion gottverlassenster Güter entdeckten den ideologischen Mehrwert, der bei der Herstellung und Vertreibung apokalyptischer Visionen anfällt: Plutonium, Aids, Ozonloch – allmonatlich rufen die Medien der Bourgeoisie neue Ursach' für den baldigen, unvermeidlichen Untergang der Welt aus, wie einst nur die Zeugen Jehovas, und geißeln als Ketzer, wer nicht dran glauben will.
Aber natürlich ist was dran an den beschworenen Gefahren und die Angst nicht grundlos. Heillos freilich macht sie erst ein apokalyptisches Geplärr, das die Organisation eines rationalen politischen Widerstands sinnlos erscheinen läßt. Also Opium.
Den Drogenhandel besorgen die einschlägigen Agenturen, die sich sinnreich diversifiziert haben und auch denen ein Stöffchen bieten, die sich nicht gleich am Rosenkranz aufhängen wollen. Das nennt sich dann Kirche von unten, Theologie der Befreiung, Arbeiterkirche, Kirche von hinten undsofort. Marx schrieb 1847 dazu: »Die sozialen Prinzipien des Christentums haben jetzt achtzehnhundert Jahre Zeit gehabt, sich zu entwickeln, und bedürfen keiner ferneren Entwicklung durch preußische Konsistorialräte«, Herr Forck. »Die sozialen Prinzipien des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen. Die sozialen Prinzipien des Christentums sind duckmäuserig.« Und dann und wann ein heiliger Franz bzw. Boff, der die geschundenen Nicaraguaner in die Kirche lockt, damit Wojtyla sie an die US-Schlächter ausliefern kann.
Die Bourgeoisie weiß, was sie an der Religion hat. Aber auch die Theoretiker der Arbeiterbewegung, erst Engels, dann Lenin, haben davor gewarnt, daß sich das Proletariat »in das Abenteuer eines politischen Krieges gegen die Religion« stürze. Die revolutionäre Praxis, die Beseitigung der Unterdrückung, werde der Religion schon die Basis entziehen. »Die Proklamierung des Krieges gegen die Religion« aber sei »eine anarchistische Phrase«. Von Engels und Lenin zu »Marx und Christus an einem Strang« (warum nicht gleich: in einem Boot? Ach, der eine ging in solchen Fällen zu Fuß) – das ist ein zwar weiter Weg, aber ein fast gerader. Nur daß die revolutionäre Praxis sich nicht, wie vorgesehen, entfalten konnte, das Gemüt auch der sozialistischen Welt herzloser und ihr Geist geistloser bleiben mußten, sodaß die Religion, anstatt abzusterben, neuen Zulauf fand – so sehr, daß ihre Führer nun damit beginnen können, die Gegenrevolution zu organisieren.
Um nichts anderes nämlich geht es. Jedes Stückchen Emanzipation der Menschheit, noch das bescheidenste, ist nicht mit, sondern gegen Religion und Kirche erkämpft worden. Und schlichtester Anstand müßte es verbieten, einer religiösen Organisation, deren Geschichte eine einzige breite Blutspur zeichnet, den Gebrauch des Wortes »Menschenrecht« anders zu quittieren als mit Hohnlachen oder einem Schlag auf die Pappn. Geschieht das? Keineswegs: Nicht die Propheten und Mitläufer des Aberglaubens haben zu beweisen, daß sie, obwohl Christen, ansonsten einigermaßen anständige Leute sind. Entschuldigen müssen sich die andern, die Ketzer. Die Sozialdemokratie hat das Christentum längst in ihre Traditionen aufgenommen. Die Grünen werden nicht ihren nächsten, bestimmt aber ihren übernächsten Parteitag in einer Kirche abhalten. Und die Kommunisten geben sich alle Mühe, bei den Herren Bischöfen einen guten Eindruck zu machen – die »UZ« über einen neuen DDRFilm: »Lothar Warneke hat die Auseinandersetzung zwischen Christen und Marxisten unterhaltsam und fair in Szene gesetzt.«
Man sollte mal im Mausoleum nachsehen. Ich wette, der Genosse Wladimir lljitsch gleicht schon einem Gyros in being.

Diese Gremliza-Kolumne erschien in Konkret 03/1988, S. 8

Update 8.7.2010:
Hinweis auf „Konkret“, 7/2010: Stefan Frank interviewt den Künstler Ernst Kahl auf Seite 58. In dem lesenswerten Interview geht es auch um das Konkret -Titelbild von 3/1988, auf welches ich im Religionsblog (2000 Jahre sind genug) verwies. Ernst Kahl war der Zeichner des Titelbildes (Jesus am Kreuz mit Maschinenpistole). Später lehnte Konkret Chef Gremliza eine Doppelseite von Kahl ab und meinte, „ er könne es sich nicht mehr erlauben, so etwas zu veröffentlichen, weil es dann wieder 900 Abokündigungen geben könnte.“
Viele Linke habe ein fast religiöses Verhältnis zu ihrer Ideologie oder witzigerweise noch mehr zur Ideologie anderer, wie beispielsweise zu der Ideologie der Christen. "Linke reagieren empfindlicher als Liberale, weil sie sektiererischer sind", so Kahl.

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